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Montagsseite:
Eine kurze Geschichte der Angst

14.05.2007
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Es war ein verregner Tag im Mai. Der Wind roch schon nach Sommer, und die ungewöhnliche Hitze vergangener Wochen lag uns trotz der rein gewaschenen Luft immer noch in der Nase.

Wir waren auf die Ladefläche eines Lastwagens geschafft worden. Dicht gedrängt und ängstlich standen wir auf der Plattform und träumten, unser Ziel wäre ein Leben ohne Angst - vielleicht ein Stück Himmel auf Erden, der uns erwarten würde.
Wir wussten nicht, wohin man uns schaffen wollte.

Unruhig traten wir auf der Stelle, während das Fahrzeug sich schaukelnd durch die Ortschaften bewegte. Kaum jemand nahm Notiz von unserem Transport. Durch Ritzen in den Wänden konnten wir die Straßen erkennen. Das Leben dort draußen duftete nach Freiheit und Glück. Das Leben im Wagen nach Fäkalien und Urin.

Angst.

Unsere Bewacher achteten darauf, dass niemand verloren ging. Schon beim Einstieg in den Transport war jeder, der sich davonstehlen wollte, mit groben Mitteln in die richtige Richtung getrieben worden. Als nun unser Wagen in eine kleine Seitenstraße einbog, wurden wir unruhig. In der Luft lag ein schwerer Hauch von Blut und Tod.
Ich befürchtete das Schlimmste, und viele meiner Genossen hatten das gleiche Gefühl. Als wir die Ladefläche verließen, wollten wieder einige von uns fliehen, wurden aber zurück gedrängt. Einzig mir gelang die Flucht. Wie, das kann ich gar nicht genau sagen. Die Angst trieb mich voran. Und wie die Leute später erzählten, hatte es einen solch spektakulären Ausbruch wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.

Ich rannte durch die Straßen dieser Innenstadt, ohne zu wissen wohin. Viele Menschen wichen mir aus. Mein Blick war gehetzt, meine Flucht ebenso. Die Angst. Sie lässt uns nicht denken, sondern nur handeln.

Meine Verfolger setzten mir nach, und sie waren zahlreich und bewaffnet. Eine kleine Armee schnitt mir die Wege ab, immer und immer wieder. Mit ihren Fahrzeugen versuchten sie mich zu stoppen. Der Schmerz beim Aufprall war gewaltig. Ich floh, und irgendwie schaffte ich es schließlich auf eine kleine Wiese. Das Gras war nass und duftete nach einem besseren Leben. Mein Traum vom Himmel auf Erden kam zurück. Warum haben wir den Transport nicht an dieser Stelle verlassen dürfen?

Das Glück war nur von kurzer Dauer, wie Sie sich denken können.
Die Angst kam zurück mit dem Schmerz und bevor ich den Knall hörte. Kurz darauf ein zweiter, und noch einer. Ich brach zusammen und starb.

Ein Tod in Angst ist ein schwerer Tod.

Meinen Körper werden sie wohl verbrennen. Sie nennen es "Körperverwertung" und nicht Krematorium. Vermutlich lande ich schließlich als Strom in ihren Steckdosen. Eine furchtbare Vorstellung.

Heute reden sie vom Schaden an ihren Fahrzeugen, von Zäunen, die ich beschädigt habe, und von der Furcht der Passanten. Doch wer redet über meine Angst? Die Angst des Flüchtenden, den sie einen Amokläufer schimpfen.
Dabei wollte ich nur überleben, und dem Schlachthaus entkommen.

Stier, gestorben am 10. Mai 2007
durch ein Sondereinsatzkommando (SEK)
in Lünen


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