16.03.2020
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Zu Beginn: Ich bin tatsächlich nicht panisch. Ich laufe nicht schreiend durch die Gegend und predige das Ende aller Tage. Ich habe nicht gehamstert, lediglich vorausschauend eingekauft, wie ich es sonst auch tue. Ich mache mir wenig Sorgen um mich selbst und um die meisten meiner Freunde und Verwandten. Ich bin in der glücklichen Postition, bestimmte, nicht unwesentliche Teile meiner Arbeit im Home-Office zu erledigen, ohne die Sorge um finanzielle Einbußen. Der Arbeitgeber drängt sogar dazu. Und doch …
Es gibt sie eben, die sogenannten Risikogruppen, die anfälliger für einen schweren Krankheitsverlauf durch COVID-19 sind, und nicht wenige Menschen aus meinem persönlichen Umfeld gehören dazu. Das heißt, ich muss damit rechnen, dass mir nahestehende Menschen an dem Corona-Virus sterben werden. Und das, so gebe ich unumwunden zu, möchte ich einfach nicht.
Noch bis Ende Februar war ich der Meinung, dass uns das Virus eh
überrollt und dass es egal sein dürfte, wie früh oder spät ich selbst
davon betroffen bin – oder auch der Rest der Welt, der nicht zu den
Risikogruppen gehört. Ich wäre kein Risikopatient, zumindest nicht
wissentlich, wohl aber in einem Alter, in dem die Sterblichkeitsrate mit
etwa 1 % zumindest schon messbar ist. Aber ich bin weitgehend
gesund, ohne Lungenvorerkrankung und in den letzten Wochen, abgesehen
von einem gelegentlich eingebildeten Kratzen im Hals, auch nicht von
Erkältungserscheinungen geplagt. Doch auch ein Mensch, der sich selbst
für recht schlau hält, ist noch lernfähig. Irgendwann sickerte die
Erkenntnis auch in mein Bewusstsein, dass das gehäufte Auftreten
schwerer Krankheitsverläufe auch durch unser vergleichsweise gut
organisiertes Gesundheitssystem nicht zu stemmen wäre und dass auch bei
uns die Menschen regional schneller wegsterben könnten, als dass wir sie
angemessen behandeln oder sogar unter die Erde bringen. Ähnliches geschieht bereits punktuell
in einigen Orten der Welt.
Es gilt also, die Verbreitung des Virus so stark zu verlangsamen, wie
es irgend geht.
Ich hoffe, diese Erkenntnis ist auch für Sie nichts
Neues?
Wer einen schweren Krankheitsverlauf erwartet, darf nicht wegen überfüllter Kliniken, überarbeiteter Pflegekräfte und nicht mehr zur Verfügung stehender Hilsmittel abgewiesen werden, um dann zuhause zu sterben. Die einzig wirksame Maßnahme ist wohl, den Ansteckungsweg zu verhindern, also möglichst den Kontakt zu allen, zumindest aber zu den meisten Menschen zu meiden. Klingt einleuchtend. Es ist aber trotzdem für manche Menschen oder auch nur in bestimmten Situationen schwierig, sich einer Direktkontaktsperre unterzuordnen.
Ich selbst war heute kurz noch einmal unsicher und trotz meiner mittlerweile vorherrschenden Kontaktvorsicht in der unmittelbaren Nähe von fremden Menschen, die sich in Teilen seltsam unvorsichtig verhielten. Da stand ich nun und fragte mich: Wenigstens auf Abstand noch hier bleiben oder es doch ganz sein lassen? Ich hatte einen Termin im Kreishaus Unna, vielleicht einen der letzten, die innerhalb der nächsten Wochen noch gemacht werden. Mir war der Termin wichtig, aber sechs Stunden später denke ich: Scheiß drauf, die Welt wäre nicht untergegangen, wenn ich ihn nicht wahrgenommen hätte. Ich hielt heute früh angemessen Abstand und war vermutlich auf der sicheren Seite, aber wer kann das schon so genau sagen? Die Fallzahlen in unserer Region sind insgesamt noch sehr niedrig, aber was wir sehen, sind eben nur die erfassten Fälle. Wenn beispielsweise viele Kinder und Jugendliche trotz Ansteckung keinerlei Symptome zeigen, wo mag das Virus mittlerweile angekommen sein? Nehme ich es irgendwo mit, und gebe ich es womöglich an jemanden weiter, der daran sterben könnte?
Wie gesagt, ich blieb auf Abstand, aber manche andere Menschen eben nicht. Ich weiß nicht, wie so etwas kommt. Für mich war allein die Möglichkeit, dies live zu beobachten, sehr grenzwertig. Am vergangenen Samstag hatte ich zum ersten Mal dieses Gefühl. Zunächst schien alles recht ruhig zu verlaufen. Die Innenstadt war trotz des ersten sonnigen Wochenendtages seit gefühlter Ewigkeit nur moderat besucht. Wo sonst Massen durch die Fußgängerzone strömten, war hier viel freie Luft zwischen den Spaziergängern und Bummlern. An diesem Tag fuhr ich noch mit dem Bus. Der Fahrerbereich war bereits durch Absperrband größzügig von den Fahrgästen getrennt; Einstieg nur an den hinteren Türen; im Bus selbst nur zwei weitere Fahrgäste. Der Schock kam beim Aussteigen. Auf dem Parkplatz zweier Lebensmittelläden krochen Fahrzeuge kreuz und quer über den Asphalt, ihre Insassen auf der Suche nach einer freien Bucht. Menschenmassen, die sich mehrreihig in den Eingangsbereichen der Supermärkte aneinander vorbei schoben. Ein Blick in den Laden, und ich sehe ein Getümmel wie in den Wimmelbildern für kleine Kinder, so der Art: Wo ist Walter? (Where is Waldo?)
Nicht dass es nichts mehr zu kaufen gegeben hätte. Die Regale waren,
soweit man das von draußen sehen konnte, nicht leer gekauft, und es
wurde von den Kunden auch nicht sichtbar aggressiv gegeneinander
gearbeitet. Und doch hatte die Szene für mich etwas Surreales.
Unvernunft in Zeiten, wo Vernunft das oberste Gebot wäre. Kaum Platz, um
nicht das einzuatmen, was andere Personen gerade ausgeatmet hatten. Ein
ähnliches Bild heute Nachmittag bei der Vorbeifahrt an einer in der
Region bekannten »Mühle« zum Verkauf von Garten- und Haustierbedarf.
Überfüllter Parkplatz und Menschenansammlungen, während anderswo weite
Teile von urbanen Flächen und Landschaften menschlich ausgedünnt
erscheinen.
Dies ist Teil meines »Aber« von oben. Mich bedrücken solche Szenen heute. In der Onlinefassung der Washington Post las ich gestern diesen sagenhaften Artikel mit den sehr leicht verständlichen Animationen, wie sich Viren ausbreiten und wie gut eine strikte Verminderung der Sozialkontakte wirkt, um die Verbreitung zu verzögern. (Den Link zur Washington-Post-Seite finden Sie am Ende dieses Artikels.) Womöglich können wir die Ausbreitung sogar so weit bremsen, dass zwischenzeitlich ein Impfstoff oder ein Medikament zur Verfügung steht, das viele Patienten retten würde? Einzelne Beobachtungen lassen mich aktuell noch daran zweifeln, dass uns dies in der Bundesrepublik Deutschland flächendeckend gelingt, ohne dass es strikte Ausgangsverbote gibt. Ich darf gerne hinzufügen, dass ich ein vehementer Gegner von Fremdbestimmtheit bin, aber wenn ich die heutige Lage mit dem Sachverstand eines vernunftbegabten Menschen betrachte, dann ordne ich mich in einer sehr außergewöhnlichen Situation auch dieser außergewöhnlichen Maßnahme unter. Möglich dass dadurch meine Eltern, meine Familienangehörigen und Freunde, die aktuell zu einer »gefährdeten Art« zählen, weitgehend am Leben bleiben.
Wie ich oben bereits andeutete, wurde ich von meiner Dienststelle und meinen Vorgesetzten dazu angehalten, möglichst die Dinge abzuarbeiten, die ich auch von zuhause aus erledigen kann. Um meinen Computer und die wichtigsten Daten abzuholen war ich heute noch einmal allein im Büro und sogar allein in der Etage unseres Dienstgebäudes. Auch der Rest des Hauses war gruselig leer, und nur im Untergeschoss hörte ich ein spielendes Kind, das vermutlich jemand mitgebracht hatte, um trotz geschlossener Tagesstätten noch (vermutlich unaufschiebbare) Arbeiten erledigen zu können.
Für mich waren diese zwei Stunden im Büro eine bedrückende Erfahrung. Heute ist mein persönlicher »Tag Null«, an dem ich endlich, obwohl ich es eigentlich schon längst wusste, mit großer Wucht begriffen habe, was gerade um mich herum, mit mir selbst, mit den Menschen und mit der Welt passiert. Und ich habe begriffen, dass ich ebenfalls noch striktere Konsequenzen für mich selbst ziehen muss … müsste … es ist schwer, aber eigentlich nicht zu vermeiden. Längst geplant, betreue ich am Mittwoch ein Vorschulkind aus unserer Familie, damit dessen Eltern, die sich aktuell weitgehend abwechseln, auch an diesem Tag ihre Berufe ausüben können. Die Großeltern kommen für die Aufgabe nicht infrage, was aber auch bedeutet, dass ich meine eigenen Eltern in den nächsten Wochen nicht werde besuchen können. Menschen, die mir nahe stehen, ja selbst enge Bindungen muss ich aussetzen, solange nicht nachweisbar ist, wer das Virus nun wirklich hat und wer nicht. Der Knirps könnte es haben. Ich kann mich auch heute an einer Türklinke angesteckt haben. Oder sonstwo auf der Straße. Wer weiß das schon?
Die Frage ist: Will ich das Risiko eingehen, es vielleicht an
jemanden weiterzugeben, der eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit
hat, daran zu sterben? Will ich diese Verantwortung tragen? Wie werde
ich damit umgehen, wenn jemand stirbt?
Wir sind in diesen Wochen und Monaten Zeugen eines globalen
historischen Ereignisses, über
das man noch einige hundert, vielleicht sogar tausende Jahre sprechen
wird. In Geschichtsbüchern wird stehen, wie sich die Welt verhalten, ja
vielleicht sogar verändert hat.
Gerade noch im Versuch, mit dem sich neu entwickelnden
Informationszeitalter
zurechtzukommen, ist die Menschheit plötzlich paralysiert durch eine
Seuche, die
uns zur Abgrenzung voneinander zwingt, aber eigentlich die Menschen auf
der gesamten Erde zusammenrücken lässt. Wir müssen Abstand zueinander
halten, uns individuell von Familienangehörigen und Freunden trennen,
Ländergrenzen
absperren und den persönlichen Kontakt von Angesicht zu Angesicht
einschränken. Die modernen Kommunikationsmittel helfen uns, trotzdem
aneinander teilzuhaben und uns nicht isoliert zu fühlen. Dabei haben wir
noch Glück, dass das Virus bezogen auf die Gesamtbevölkerung nicht so
tödlich ausfällt wie beispielsweise Ebola. Wir haben noch gute Chancen.
Ob Staatenbünde, Präsidenten, einzelne Länder, Unternehmen oder Privatpersonen: Im Großen wie im Kleinen können wir heute beobachten, wie es um unser moralisches und verantwortungsvolles Handeln im Sinne eines Allgemeinwohls, eines Füreinandereinstehens und der Nächstenhilfe steht. Im Großen wie im Kleinen sehen wir sowohl die Anstrengung, ein gemeinsames Problem gemeinsam lösen zu wollen, aber auch egoistische Beweggründe, die aller Voraussicht nach Menschenleben kosten werden (oder mit etwas Glück nur kosten würden).
Vermutlich werden kommende Generationen auf diese unsere Zeit schauen, sie diskutieren, im Geschichtsunterricht der Schulen behandeln und über uns werten, ob wir gut und richtig, vielleicht auch nur mit der besten Absicht, aber unzureichend, möglicherweise auch komplett unzivilisiert und mittelalterlich gehandelt haben.
Wie ihr Urteil ausfällt, haben wir selbst in der Hand.
Lassen wir es gut werden.
Bleiben Sie gesund!
Wolfgang Schmidt-Sielex
Anhang:
Der Corona-Virus-Simulator von der Washington Post. Bei unserem Aufruf
(15. und 16.03.2020) geprüft auf Unbedenklichkeit des fremden Inhalts:
corona-simulator at washingtonpost.com
(Bitte beachten Sie: Die Website der Washington Post ist auf Englisch,
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