von Renée Westermann
mit Fotos und Montagen von Wolfgang Schmidt-Sielex
27.10.2008
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Schwarz ist es.
Aus den Tiefen seines Traumes
steigt der Mann in sein bewusstes Ich.
Und alle acht Sekunden klingt ein leises, kurzes Chrrt
in dieser Dunkelheit.
Das Fluoreszieren des Weckers,
es hat nachgelassen über Nacht.
Ein blasser Schimmer nur, der zeigt,
wo sein Geräusch den Ursprung hat,
doch ohne dass der Mann
erkennen kann,
wie spät es wirklich ist.
Chrrt.
Den Weckton wartet er nicht ab.
Er langt hinüber,
drückt die Wippe oben auf der Uhr.
Chrrt.
Er liegt noch eine Weile in der Finsternis und lauscht.
Das Rauschen eines Autos
klingt gepresst inmitten jener Takte seines Weckers
von der Straße vor dem Haus herüber.
Das Fenster in der Küche,
zur Hälfte ist sein Glas mit dünnem Stoff bedeckt.
Darüber zwinkern ihm die letzten Sterne zu.
Ein grauer Schleier wogt in Langsamkeit über den Osten.
Im Aufstieg dieser stillen Welle
färbt sich dessen weicher Kern in trübes Violett.
Er öffnet das Fenster zum Hof,
lauscht der Ruhe dieser anderen Seite,
schmeckt die kühle, feuchte Luft
und atmet fahle Farben ein.
Der kleine Löffel füllt die Mühle. Eins, zwei, drei.
Er schließt die Klappe, Messingblech.
Er drückt sich mit der Linken
die Mühle vor den Bauch
und dreht mit seiner Rechten dann
das Mahlwerk kreisend durch.
Knirschend zerreibt es die duftenden Bohnen,
knirschend vibriert die hölzerne Mühle,
knirschend vibriert nun seine Mitte
und fühlt, wie auch in ihr etwas zerrieben wird.
Er fühlt sich weicher als zuvor.
Der Stiel des kleinen Löffels
schiebt das Pulver aus der Lade
in ein Sieb aus Stahl.
Er drückt es mit der Löffelwölbung fest.
Den Griff des Löffels ziert das kleine Relief der Rose.
Lieb gewonnenes Einzelstück.
Vor seinen Augen sieht er schlanke Finger diese Rose halten.
Hände, die nicht seine sind.
Seit Jahren, jeden Morgen sieht er sie.
Und der Duft des Pulvers wirkt wie eine Droge.
Er setzt das Sieb in die Maschine,
und als der Wasserdampf die Milch erhitzt,
sanft zischend,
flüstert er unhörbar ihren Namen.
Der Schaum der Milch bleibt an ihm haften.
Ein Blatt des Ginkgo vor dem Fenster
gleitet leis zu Boden.
Die Zunge gleitet leise
an dem Schaum auf seinen Lippen lang,
verschwindet hinter seinen Zähnen,
als das gelbe Blatt die Erde trifft.
Er spürt den Herbst in sich.
Die Arme auf die Fensterbank gestützt,
die warme Tasse in den Händen,
hält er sie der rechten Wange an.
Die Hitze links in seiner Brust ist größer.
Er lächelt, hört den Ruf der Gänse
und sehnt sich, dass ihr Zug erscheint.
Achtzig, vielleicht hundert sind es,
die am Himmel ihre Linien ziehen.
So fliegen sie vorüber, rufen laut hinab.
Und er? Er winkt und fühlt,
dass ein Stück von ihm mit ihnen
auf die Reise geht in diesem Herbst.
Das große V der Formation am Himmel
ist symmetrisch und konvex.
Ein süßes Muster, süßer Schmerz.
Den Vogel an der Spitze
tauft er "Hyadum Primus".
Denn zu später Stunde in der Nacht zuvor
sah er das Sternbild, das zu ihr gehört
und dessen erster Anblick ihn ergreift
in jedem neuen Jahr.
Das Bild, in dessen Mitte dieses V sich zeigt,
sanft gebeugt nach außen,
so dass es ihrem Kinn doch gleicht,
an das er sich so gern erinnern mag.
Feuchte Luft, hüfthoher Dunst steht über diesen Feldern.
Die Schritte klingen kaum auf seinem Weg
am Rand des Waldes, wo er geht.
Ein Feuerball wärmt still die Böden auf.
Er hält und schweigt und schließt die Augen,
lauscht dem Laub,
das noch in Massen raunend an den Zweigen hängt.
Es ist geschenkt.
Die Bank am Rande eines Ackers,
ein Bächlein fließt mit ruhigem Klang dahin in seinem Rücken.
In der Erde tausend kleine Sprosse,
leuchtend grün und ungewöhnlich satt in dieser Zeit.
Das Krächzen schlauer Burschen,
gekleidet in gefiederte Gewänder und tiefschwarz.
Sie ernten, was der Boden ihnen gibt.
Das Plätschern singt von hinten in sein Herz,
von vorn die Flammen wohlig ihn umarmen.
Und so, wie manch Umarmung auch sein Inneres wärmt,
so dringt die Kraft der Sonne tief ihm in die Haut.
Nach langer Zeit erhoben, glücklich,
schreitet er den Weg zurück.
Ein Käfer surrt bis an sein Ohr
und flüstert, was ein Käfer flüstern kann:
sein Lied vom letzten Sommer
und vom Leben, das er darin führte,
und vom Tod der Käferfrau.
Und wie ein Käfer krabbelt,
so geht der Mann den Weg zurück nach Haus.
Doch denkt er nicht an letzten Sommer,
sondern an die Zeit, die ist,
und an die Zeit, die kommen mag.
Die Nachbarin von oben lächelt freundlich, als sie ihn erblickt,
und fragt nach dem Befinden,
wie doch alle Menschen höflich fragen.
"Ich weine oft in diesen Tagen",
hört der Mann sich lächelnd sagen.
"Ein Zeichen, dass es gut, so gut mir geht
in diesen Tagen."
Text:
Renée Westermann
Auszug aus: "Essenzen aus dem Dialog mit einem Freund"
Fotos und Montagen: Wolfgang Schmidt-Sielex
Alle Verwertungsrechte für Text und Bilder: www.schmidt-sielex.de